„Sehr schade, dass die Parteien im Rat oftmals nicht zueinander finden“ Interview mit der Kaarster Bürgermeisterin Dr. Ulrike Nienhaus

Vor mehr als einem Jahr hat Dr. Ulrike Nienhaus das Amt der Bürgermeisterin der Stadt Kaarst übernommen. Viel Zeit, in Ruhe ein Fazit zu ziehen, hatte sie bisher nicht: Heute wird im Stadtrat über den Vorschlag der Verwaltung für den städtischen Haushalt 2017 diskutiert.

 Zu Besuch im Büro der Stadtchefin: Die Kaarster Bürgermeisterin Dr. Ulrike Nienhaus stand

Zu Besuch im Büro der Stadtchefin: Die Kaarster Bürgermeisterin Dr. Ulrike Nienhaus stand

Foto: Foto: Kurier-Verlag

Dennoch hat sich die Stadtchefin mit unserem Redakteur Rolf Retzlaff über Zukunftsvisionen, Flüchtlingsfragen, Steuererhöhungen und die Stimmung im Stadtrat unterhalten.

Frau Dr. Nienhaus, Sie haben die Nachfolge von Franz-Josef Moormann angetreten — ein großes Erbe?

Ich konnte ein gut bestelltes Haus übernehmen. Herr Moormann hat sehr viel für Kaarst geleistet. Auf der anderen Seite war es eine große Herausforderung, gerade weil die Erwartungen so hoch waren. Aber ich hatte das Glück, dass mir die Beigeordneten und der Kämmerer mit ihrer guten Arbeit den Einstieg erleichtert haben und ich mich auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlassen kann.

Sie bringen aus Ihrer Tätigkeit bei der Bezirksregierung eine immense Verwaltungserfahrung mit — ein Vorteil in Ihrer Funktion als Bürgermeisterin?

In der Bezirksregierung ist vieles stringenter, klarer geregelt. In der Stadtverwaltung hat man mehr Spielraum, kann auch auf individuelle Probleme eingehen. Hier habe ich die Möglichkeit, eigenverantwortlich einiges zu verbessern. Man ist näher dran am Geschehen — auch an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das bringt zahlreiche Vorteile mit sich.

Apropos näher dran: Merken Sie, dass Ihr Bekanntheitsgrad seit Amtsantritt in Kaarst gestiegen ist?

Auf jeden Fall! Ich werde immer wieder auf der Straße angesprochen, habe ganz viele schöne Begegnungen. Ich finde es gut, dass der Bürger die Nähe sucht und mich anspricht. Das werte ich als Zeichen des Vertrauens.

Vertrauen, das Sie nicht enttäuschen wollen: Wo sehen Sie zurzeit in Kaarst Handlungsbedarf?

Jeder Ort hat seine Themen — das Handlungskonzept für die Kaarster Innenstadt, der Rathausplatz in Büttgen und der Vorster St.-Eustachius-Platz bis hin zur ÖPNV-Verbindung zwischen den Ortsteilen. Vor allem aber auch die Themen Schaffung von Wohnraum und die Gewerbegebietsentwicklung sind für die Zukunft bedeutend. Es gibt aber auch eine ganz große Zufriedenheit der Bürger, denen Kaarst sehr gut gefällt. Dennoch müssen wir über Qualitätsverbesserungen reden.

Welche Visionen haben Sie für das zukünftige Kaarst?

Unsere Stadt ist lebendig, aber wir müssen weiter das Ziel verfolgen, Wohnen, Leben und Arbeiten in Kaarst auch für jüngere Familien attraktiv zu gestalten. Ein generationenübergreifendes Miteinander, dies sollte unser gemeinsames Ziel sein. Sport und Kultur dürfen dabei nicht zu kurz kommen.

Was macht Kaarst attraktiv?

Kaarst zeichnet eine lebendige Vielfalt aus. Die hervorragende Lage und die gute infrastrukturelle Anbindung mit der Nähe zu den Städten Düsseldorf und Köln, aber auch zum Niederrhein hin ist ein Standortvorteil. Dazu kommen die hohe Lebensqualität und das gute soziale Miteinander.

Wir haben gute Kita-Angebote und eine breit aufgestellte, vielgliedrige Schullandschaft. Das Kulturangebot ist über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Wir haben zahlreiche Sport- und Freizeitmöglichkeiten zu bieten.

Dies alles muss aber auch bezahlt werden...

...wobei wir beim städtischen Haushalt wären. Hier müssen wir dringend die Einnahmeseite verbessern.

Zum Beispiel durch die rege diskutierte Erhöhung der Grundsteuer B.

Wir haben von der Verwaltung her in diesem Jahr im Vergleich zum Haushaltsjahr 2016 mit 2,8 Millionen Euro schon massive Einsparungen vorgenommen. Allerdings sind die Ausgaben immer noch höher als die Erträge. Die von mir Anfang 2016 eingesetzte Lenkungsgruppe Haushaltskonsolidierung hat leider keine konkreten Sparvorschläge erbracht.

Durch die gestiegenen Belastungen im Bereich der Flüchtlingsunterbringung, der Sozialleistungen oder auch durch die verpflichtende Zahlung zum Stärkungspakt sind erhebliche Ausgaben auf die Stadt zugekommen. Nach wie vor fehlt hier die Gegenfinanzierung durch das Land. Es ist daher wichtig, Maßnahmen zu ergreifen, um die Haushaltslage zu verbessern. Die vorgeschlagene Erhöhung der Grundsteuer bewirkt, dass wir nicht in die Haushaltssicherung kommen und so im nächsten Jahr konkrete Maßnahmen umsetzen können. Hier erwarte ich Vorschläge von den politischen Parteien, welche Leistungen zukünftig nicht mehr oder in einem veränderten Umfang von der Stadt erbracht werden sollen. Auf jeden Fall ist es wichtig, dass ein Haushalt verabschiedet wird, ansonsten trifft es viele Vereine und Institutionen, für die die freiwilligen Leistungen unabdingbar für die Aufrechterhaltung ihrer Angebote sind.

Thema Flüchtlinge: Sind unsere neuen Mitbürger mittlerweile in Kaarst angekommen?

Das ist in vielen Bereichen so, sie sind größtenteils sehr gut integriert. Dies ist einem hohen Maß ehrenamtlichen Engagements zu verdanken. Sportvereine nehmen Flüchtlinge ohne Beitragszahlung auf, die Flüchtlingshilfe betreut sie und richtet ihnen Wohnungen ein, der Ökumenische Arbeitskreis Asyl engagiert sich ebenfalls. Zudem hat sich bewährt, dass die Flüchtlinge dezentral in Wohnungen untergebracht sind. Hier werden sie von der Bevölkerung getragen und begleitet.

In einigen Gemeinden regt sich jetzt Kritik: Flüchtlinge werden als Konkurrenz zu den deutschen bedürftigen Bürgern gesehen. Ist diese Tendenz auch in Kaarst zu beobachten?

Nein, das kann ich in dieser allgemein Form nicht bestätigen. Zwar gibt es auf dem Wohnungsmarkt Konkurrenz, aber wir sind auf einem guten Weg, mehr Wohnraum zur Verfügung stellen zu können. Ansonsten stelle ich eher ein tägliches Miteinander der Neu-Bürger und zum Beispiel Vereinen und Kirchengemeinden fest. Das ist gut so: Auch ich habe während meines beruflich bedingten zweijährigen Aufenthalts in Bagdad erfahren, wie man sich in einem ganz anderem Kulturkreis fühlt. Ich habe aber auch erlebt, wie wichtig es ist, die Sprache zu beherrschen. Sprache ist der Schlüssel für das Miteinander.

Thema Wirtschaft...

...ein sehr wichtiges Thema. Der Ikea-Neubau geht gut voran, im August/September ist die Eröffnung geplant, der Brückenbau macht gute Fortschritte. Das Gewerbegebiet "Kaarster Kreuz" wird weiter entwickelt. Wir haben konkrete Anfragen von Unternehmen, die sich hier ansiedeln wollen. Die Nähe zum neuen Ikea-Haus ist für viele Unternehmen attraktiv.

Was passiert mit dem Ikea-Altstandort? Es gibt Gerüchte, dass hier eine Halle für Veranstaltungen genutzt werden soll?

Das Albert-Einstein-Forum soll in den nächsten Jahren saniert werden. In diesem Zusammenhang ist es erforderlich, eine Ersatzspielstätte für das Kulturprogramm auszusuchen. Hier war auch das Auslieferungslager von Ikea im Gespräch. Der Umbau würde jedoch zu teuer werden.

Die Vermarktung des Ikea-Altstandortes wird eine der wichtigen Aufgaben der Zukunft sein. Aber blicken Sie auch mal zurück: Was war Ihr persönliches Highlight in Ihrer Zeit als Bürgermeisterin?

Das war eindeutig die Herausforderung, die Flüchtlinge in Kaarst aufzunehmen, zu integrieren und dafür zu sorgen, dass wir sie trotz hoher Ankunftzahlen nicht in Zelten unterbringen mussten.

Und wie läuft's im Stadtrat?

Es ist sehr schade, dass die Parteien oftmals nicht zueinander finden, um die Entwicklung der Stadt weiter voran zu bringen. Hier gibt es ideologische Barrieren. Wir haben acht Fraktionen und ein Einzelratsmitglied, die den Rat bunt und lebendig gestalten, aber damit auch mehrere verschiedene Interessen, die unter einen Hut gebracht werden müssen. Auseinandersetzungen müssen sein, aber man muss auch zueinander finden.

Fördert dies die Gefahr der Politikverdrossenheit des Bürgers?

Das kann sein. Es stellt sich aber auch die Frage, wie intensiv sich der Bürger mit den politischen Hintergründen beschäftigt. Dies ist oft eine Zeitfrage, aber vielen Menschen geht es sehr gut. Sie setzen andere Prioritäten, das Interesse an Politik ist da zweitrangig. In schlechten Zeiten rücken die Menschen näher zusammen, zurzeit steht eher das Individuum im Vordergrund.

Den meisten Menschen in Kaarst geht es gut, sagen Sie. Das bestätigt auch die für die Erstellung eines Integrierten Entwicklungs- und Handlungskonzeptes für Kaarst zuständige Agentur. Die befragten Bürger sind mit ihrer Stadt grundsätzlich sehr zufrieden.

Das stimmt, aber ich würde mir noch mehr Engagement der Bürger wünschen. Spontane Ideen sind gut, wir brauchen Quer- und Vordenker. Zwar herrscht in Kaarst eine Grundzufriedenheit, aber wir müssen mit Verbesserungsmaßnahmen beginnen, bevor die Stimmung kippt. Es ist wichtig, die Bürger zusammen zu bringen und so gemeinsam für alle etwas zu erreichen.

Ein schönes Schlusswort! Frau Dr. Nienhaus, ich danke Ihnen für das Gespräch.

(Kurier-Verlag)
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