1. Neuss

Ralf Hörsken über Sicherheit, Armut und Flüchtlinge in Neuss

Interview mit dem neuen Sozialdezernenten : Ralf Hörsken über Sicherheit, Armut und Flüchtlinge in Neuss

Vor kurzem hat Ralf Hörsken Stefan Hahn als Sozialdezernenten der Stadt Neuss abgelöst. Stadt-Kurier fühlte dem Neuen genauer auf den Zahn. Im Interview spricht der 57-Jährige über die Herausforderungen der Flüchtlingskrise, Armut in Neuss und wie er die sozialen Probleme in den Griff bekommen will.

Herr Hörsken, Sie sind jetzt einige Monate im Amt des Sozialdezernenten der Stadt Neuss. Wie fällt Ihr Resümee nach dieser ersten Zeit aus?
Von einem Resümee kann ich noch nicht sprechen. Die Zeit ist praktisch an mir vorbeigeflogen. Zunächst musste ich respektieren, dass es in dieser Stadt ein festes Netzwerk von Trägern und Engagierten gibt. In meiner ersten Zeit habe ich 35 Institutionen besucht, 250 Termine wahrgenommen, mit über 1.000 Menschen gesprochen und leider auch bestimmt 500 Tassen Kaffee getrunken.

Wie wurden Sie von den Menschen aufgenommen?
Sehr positiv. Es gab nicht eine verschlossene Tür oder ein negatives Gespräch. Viele waren erstaunt, dass ich sie an ihrem Arbeitsplatz besucht habe.

Was waren die wichtigsten Punkte, die Ihr Vorgänger Stephan Hahn Ihnen mitgegeben hat, bevor Sie seine Nachfolge angetreten haben?
Ich bin bewusst unvoreingenommen in die Gespräche mit den Institutionen und Mitarbeitern gegangen, um mir ein eigenes Bild zu machen. Später habe ich meine Eindrücke mit Herrn Hahn geteilt. Die Einarbeitungszeit war allerdings mit rund einer Woche sehr kurz, da mein Vorgänger bereits viele Termine für den Städtetag — wo er jetzt tätig ist — wahrgenommen hat.

Eines der meistdiskutierten Themen in Neuss ist die Flüchtlingsdebatte. Wie ist die aktuelle Lage?
Was die Flüchtlingssituation in Neuss betrifft, sehen wir uns in einer ganz neuen Lage. Bisher war es so, dass wir im Vergleich zu anderen Städten weniger Flüchtlinge dauerhaft unterbringen mussten. Das lag daran, dass in Neuss bis zu 2.000 Flüchtlinge in Landesunterkünften, wie auf dem Alexianergelände, untergekommen waren. Nun wird in Kürze nur noch die Hälfte der in Landesunterkünften untergebrachten Flüchtlinge auf das Flüchtlingskonto der Stadt angerechnet. Das stellt uns vor neue Herausforderungen.

Was heißt das in konkreten Zahlen ausgedrückt?
1000 Neuzuweisungen an Flüchtlingen, die dauerhaft in Neuss bleiben sollen. Das heißt, dass die 27 dezentralen Standorte wieder in den Fokus gerückt sind. Wir haben jeden einzelnen auf den Prüfstand gestellt, dabei neu die Kriterien Schule, Kita und Einkaufsmöglichkeiten eingebracht. Allerheiligen ist wieder im Gespräch.

Warum legen Sie so viel Wert auf die gleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge auf die Stadtteile?
Es ist wichtig, dass die Flüchtlinge nicht geballt dauerhaft in einer Massenunterkunft bleiben, um soziale Brennpunkte zu vermeiden. Das gilt ganz besonders für die Kinder. Eine Kita, die nur auf Flüchtlingskinder ausgelegt wäre, gilt es zu vermeiden — das hemmt die Integration. Im übrigen auch für die Eltern, denn die Kinder sind der Schlüssel zur gelungenen Integration.

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In anderen Kommunen klappt die Unterbringung in privaten Wohnungen besser. Warum ist das in Neuss nicht so?
Es gibt viele Städte, in denen es leere Straßen und hunderte leere Wohnungen gibt. Das findet man in Neuss nicht. Dennoch haben wir aktuell 70 private Wohnungen belegt und werden auch wieder dazu aufrufen, uns Vorschläge zu machen.

Eine besondere Betreuung soll minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen zukommen. Wie ist die Stadt in diesem Punkt aufgestellt?
Wir haben aktuell 100 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge bei uns. In der Tat steckt ein großer Aufwand in der Betreuung. Man muss immer bedenken, dass die Jugendlichen unvorstellbares Leid durchgemacht haben. Dementsprechend ist auch die Betreuung intensiv. Gut ist es natürlich, wenn die Jugendlichen — sofern vorhanden — ihre Familien nachholen können. Denn so kann wiederum die Integration schneller und einfacher erfolgen.

Fällt Alleinstehenden die Integration schwerer?
Die Gruppe der alleinstehenden Männer bereitet mir schon Sorgen. Sie sind schlimmstenfalls in keinerlei soziale Netzwerke gebunden, dürfen in der Regel noch nicht arbeiten und müssen noch keine Verantwortung übernehmen. Das macht es schwieriger, an sie ranzukommen.

Nach den ersten Anschlägen in Deutschland wird das Bedürfnis nach Sicherheit immer größer. Sie sind auch Dezernent für Jugend, Ordnung und Rettungswesen. Wie ist Ihre Einschätzung der Lage?
Ich muss sagen, dass ich zum Beispiel nach dem Schützenfest schon erleichtert war, dass alles friedlich abgelaufen ist. Wichtig sind immer klare Regeln. Es ist gut, wenn die zu uns gekommenen Menschen schnell klare Tagesabläufe haben und im Gespräch mit den Bürgern bleiben. Ehrenamtler sind an dieser Stelle unabdingbar. Wir stehen zudem in einer Sicherheitspartnerschaft mit Polizei und Ordnungsamt. Was ich allerdings auch lernen musste: In arabischen Ländern verbinden die Menschen oft negative Gefühle mit Polizisten. Auch diese Hemmschwelle muss durch Begegnungen abgebaut werden.

Sie erwähnen es immer wieder: Geregelte Abläufe sind wichtig. CDU und Grüne gaben Ihnen im jüngsten Sozialausschuss den Prüfauftrag, wie Arbeitsplätze für Flüchtlinge geschaffen werden könnten. Gibt es dazu bereits erste Erkenntnisse?
Da ich in der Verwaltung der Bundesagentur für Arbeit tätig war, habe ich gute Beziehungen in dem Bereich. So konnte ich schnell in Erfahrung bringen, dass im Bereich Hotel und Gastronomie händeringend nach Kräften gesucht wird. 200 Arbeitsgelegenheiten könnten schnell geschaffen werden. Das Problem ist allerdings immer wieder die Sprachbarriere und hemmende Verordnungen. Ich will es an einem Beispiel verdeutlichen: In Duisburg arbeitete ich an einem erfolgreichen Projekt mit, bei dem Langzeitarbeitslose langsam an die Beschäftigung herangeführt wurden, indem sie alte und eingeschränkte Personen zu Arztbesuchen begleiteten. Ohne die Beherrschung der deutschen Sprache wird es hier schon schwierig. Dabei könnten wir sinnvolle Hilfen an vielen Stellen auch durch den Wegbruch der Zivildienstleistende Hilfen gut gebrauchen.

Täglich erreichen unsere Redaktion Zuschriften, dass die hier lebenden Sozialfälle im Vergleich zu den Flüchtlingen vernachlässigt werden. Was tun Sie für die bedürftigen Menschen vor Ort?
Ich kann diese Sorgen sehr gut nachvollziehen. In den Medien gibt es seit Monaten kaum ein anderes Thema als Flüchtlinge. Es entsteht beinahe der Eindruck, dass nun jede Hilfe nur noch dieser Gruppe zuteil wird. In Wahrheit ist dieser Faktor aber nur ein kleiner Teil meiner Arbeit als Sozialdezernent. Vorne auf meinem Tisch liegt ein Stapel, der fast nur mit Themen wie Jugend, Pflege etc. zu tun hat. Zudem wurde keinem einzigen hier lebendem Menschen die Hilfe, die ihm zusteht, verweigert. Daran hat auch die verschärfte Flüchtlingssituation nichts geändert.

Für Obdachlose hat sich in diesem Jahr einiges getan. Nachdem die Unterkunft am Derendorfweg völlig überlaufen war, wurde sie erweitert. Wie ist die Lage aktuell?
Momentan scheint sich die Lage entspannt zu haben. 36 alleinstehende Männer nutzen diese Unterkunft regelmäßig und es gäbe noch Platz für weitere. Was mir allerdings Sorge bereitet, ist, dass die Obdachlosigkeit zunimmt — und das nicht nur bei Männern. Auch alleinerziehende Frauen mit Kind sind betroffen.

Wo kommen sie unter? Die Obdachlosenunterkunft am Derendorfweg ist nur für Männer ausgelegt.
Aktuell werden Frauen in Hotels untergebracht, aber auch das ist nur eine Notlösung. Mir schweben da soziale Einrichtungen vor.

Weitere Problemfälle sind in Armut lebende Senioren und Kinder, weil diese oft nicht erfasst werden. Bei älteren Mitbürgern ist die Schamgrenze hoch. Gibt es Armut in Neuss? Was tut die Stadt, um an diese Gruppen zu kommen?
Selbstverständlich und leider gibt es Armut bei uns. Und das messe ich nicht nur an Einkommenszahlen, sondern definiere das darüber, wann Menschen von der Gesellschaft abgehängt werden. In Neuss gibt es ein essenzielles Problem. Nur noch 55 Prozent der hier Lebenden sind der Kirche formal verbunden. Davon gehen höchstens 20 bis 25 Prozent regelmäßig in die Gottesdienste. Heißt, dass rund 80 Prozent nicht in das soziale Auffangnetz der Kirche fallen. Unsere Trägerschaften sind weitgehend kirchlich, Muslime würden dort eher keine Hilfe in Anspruch nehmen. Auch das Familienbild hat sich komplett geändert. Das Thema Senioren und Pflege wird immer größer. Hinzu kommt die Scham — gerade der älteren Menschen — das Sozialamt anzurufen. Wir brauchen mehr Auffangstationen, die unabhängig von der Kirche sind. Neuss muss versuchen, eine sozialere Stadt zu werden, hinschauen und sich engagieren.

Wir haben einige Bereiche angesprochen. Wo in Neuss herrscht Ihrer Meinung nach dringendster Handlungsbedarf?
Ich hoffe, dass soziale Themen mehr in den Vordergrund gerückt werden können. Jemand sagte mir zuletzt im Wahlkampf, soziale Themen seien nicht sexy. Sie sind aber wichtig, genau in diesem Bereich sollte nicht gespart werden. Auch das Thema Inklusion ist mir wichtig, weshalb ich sofort eine Stabsstelle gegründet habe. Die Teilhabe, der Mut Menschen einzuschließen — das ist so viel mehr als ein behindertengerechter Aufzug, der installiert wurde. Es hat mich zum Beispiel sehr gefreut, mehrere Rollstuhlfahrer beim Schützenfest zu sehen. Wir müssen endlich wirklich alle Menschen in Neuss mitnehmen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Violetta Buciak

(Kurier-Verlag)