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Reiner Breuer im Interview: „Neusser Flüchtlingspolitik ist eine Katastrophe“

Reiner Breuer im Interview: „Neusser Flüchtlingspolitik ist eine Katastrophe“

Nachdem die CDU bei vergangenen Wahlen an Boden verloren hat, sieht die SPD erstmals die Chance, in Neuss den Bürgermeister zu stellen. Kandidat Reiner Breuer und SPD-Parteichef Benno Jakubassa im Interview.

Ihr letzter Kanzlerkandidat Peer Steinbrück sagt, dass die SPD, die seit Jahren in einem Prognosentief steckt, keinen Enthusiasmus weckt, niemanden mitreißt.

Breuer:

Die Bürgermeisterwahl ist eine Persönlichkeitswahl. Die Belange der Partei stehen da gar nicht so sehr im Mittelpunkt. Nichtsdestotrotz bin ich seit 1987 Sozialdemokrat aus Überzeugung. Dass die SPD aus diesem 25-Prozent-Turm derzeit nicht herauskommt, wundert mich. Schließlich hat sie im Bund wichtige Vorhaben wie den Mindestlohn durchgesetzt.

Jakubassa:

Das ist das Phänomen Merkel. Die Deutschen wünschen sich doch, dass alles beim Alten bleibt und wollen keine großen Veränderungen. Sie personifiziert das Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit wie keine andere. Selbst meine Tochter, die vorher immer SPD-Wählerin war, hat sich 2013 entschieden, Merkel zu wählen.

Stadt-Kurier:

Sie sagen, dass die Deutschen sich wünschen, dass alles beim Alten bleibt. Warum trifft das für Neuss nicht zu?

Breuer:

Es kann ja alles beim Alten bleiben, aber dann mit mir (lacht). Nein, im Ernst, Bürgermeister Napp hat viele Baustellen hinterlassen, an denen dringend gearbeitet werden muss. Wir müssen die Fenster aufreißen und den Mief, ja, auch den Qualm aus dem Rathaus herauslassen. Es ist Zeit für einen Neubeginn. Wir müssen uns auf die Potenziale besinnen, die Neuss hat und diese nutzen.

Stadt-Kurier:

Sie sind viel im Bürgerdialog und fangen die Stimmung ein. Wie hat sich diese in den vergangenen Jahren verändert?

Breuer:

Die meisten Neusser leben wie ich sehr gerne hier. Die Stimmung hat sich aber teilweise deutlich verschlechtert. Ich habe den Eindruck, viele Bürgerinnen und Bürger sind unzufriedener und bereit für Veränderungen. Ja, sie fordern diese sogar.

Jakubassa:

Ich fahre viel im Taxi und fange da auch deutliche Stimmen pro Breuer ein. Und das auch von vielen türkischen Mitbürgern, die ja eine sehr konservative Haltung haben. Wer Breuer gefahren hat, wählt ihn sowieso. Und die, die Napp gefahren haben, wählen Breuer erst recht.

Stadt-Kurier:

Aber im Grunde genommen haben Sie und Thomas Nickel das gleiche Wahlprogramm.

Breuer:

Ich kenne sein Wahlprogramm nicht. Ich glaube, er hat auch keins.

Stadt-Kurier:

Nun ja, Sie setzen sich beide für mehr soziale Wohnungen ein, eine bessere Familienpolitik und gepflegtere Grünflächen...

Breuer:

Mag sein, aber es gibt nur einen, der diese Ziele glaubhaft vertritt und das bin ich. Gerade was das Thema bezahlbarer Wohnraum angeht, waren wir von der SPD es, die über Jahre versucht haben, umzusteuern. Es wurde gegen unsere Stimmen an vielen Stellen Personal abgebaut, das nicht wieder besetzt wurde – auch im Grünflächenamt.

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Jakubassa:

Sehen Sie, wenn Herr Nickel ein Newcomer wäre, könnte man ihm ja noch eine Chance geben. Aber er hat die ganzen Missstände mit zu verantworten. Er ist Teil des Systems.

Breuer:

Gerade sein Statement, plötzlich Kindergartenbeiträge abschaffen zu wollen, bringt mich auf die Palme. Dafür haben wir jahrelang gekämpft und nie ist etwas passiert. Diese Forderung von ihm ist ein bloßes Lippenbekenntnis. Dabei kenne ich Familien, die eben aus diesem Grund nicht nach Neuss ziehen wollen.

Generell ist das Frauenbild hier immer noch antiquiert. Die Vereinbarkeit von Familie und Job sollte viel besser gewährleistet sein.

Stadt-Kurier:

Wie stehen Sie zu der aktuellen Kampagne für eine echte Eheschließung von Homosexuellen?

Breuer:

Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden! Deshalb habe ich auch nichts gegen die rechtliche Gleichstellung der Homo-Ehe. Wenn ich zukünftig als Bürgermeister Trauungen durchführen darf, werde ich natürlich gerne auch gleichgeschlechtlichen Paaren sich das Ja-Wort geben lassen.

Stadt-Kurier:

Wollen das die Neusser denn? Hier lebt es sich gut bürgerlich und viele Menschen sind doch eher konservativ.

Breuer:

Nein, das denke ich nicht. Vergangenes Jahr war ich beim Schützenfest in Gnadental. König Eckhard Linden, ehemaliger Geschäftsführer der CDU in Neuss, und sein Partner wurden umjubelt. Das war überhaupt kein Thema.

Stadt-Kurier:

Es gibt die Tafel, die begrenzte Lebensmittel hat. Nun bekommen die angestammten Armen Konkurrenz von den vielen Flüchtlingen, die auch Hunger haben. Hier drohen Konflikte. Wie sehen Sie die Flüchtlingspolitik des CDU-regierten Rathauses?

Breuer:

Neuss muss auf alle Fälle beides tun. Denen helfen, die zu uns kommen. Und denen, die hier schon lange wohnen und denen es auch nicht gut geht. Insbesondere die Kommunikation der Flüchtlingspolitik aus dem Rathaus ist eine schiere Katastrophe. Die voreilige Bekanntmachung von 27 zum Teil nicht realisierbaren Standorten war von Anfang an eine Schnapsidee. So sollen die Asylbewerber unter anderem in einem ehemaligen Gefängnis an der Grünstraße untergebracht werden. Das ist menschenunwürdig. Nein, es muss einen Neustart geben. Das St.-Alexius-Krankenhaus muss gekauft und der Standort fortgesetzt werden, zusätzlich zur zentralen Unterbringung an der Rennbahn. Andernfalls wird die Willkommenskultur stark leiden.

Stadt-Kurier:

Also gibt es Armut in Neuss?

Breuer:

Ja, wer mit offenen Augen durch Neuss geht, weiß, dass es auch hier Armut gibt, dass es Obdachlose und auch hoch verschuldete Menschen gibt. Viele sind durch die hohen Wohn- und Nebenkosten schlichtweg überfordert. Die Kosten einer Wohnung machen gerade bei Geringverdienern ja schon 40 Prozent des Gesamteinkommens aus. Die Stadtwerke machen da Jahr für Jahr fette Gewinne. Da muss der neue Bürgermeister dringend ran.

Stadt-Kurier:

Sie glauben also, dass bei den städtischen Töchtern „stille Reserven“ versteckt sind?

Breuer:

Ich werde als Bürgermeister zuerst einen Kassensturz machen und mir einen Einblick in die Gesamtlage der Finanzen des Konzerns Stadt Neuss verschaffen.

Ich bin mir sicher, da gibt es immense Rücklagen und stille Reserven, gerade bei den Stadtwerken. Das Geld muss den Menschen zugutekommen.

Stadt-Kurier:

Die Millionen von Höffner sind schon weg. Unglaublich, wie verschwenderisch unsere Politiker sind, oder?

Breuer:

Ein Einmaleffekt, mit dem der Haushalt ausgeglichen wurde. Jetzt sind ja noch weitere Grundstücksverkäufe für Projekte wie Sconto und ein Bauhaus geplant. Das ist aber Stadtentwicklung nach Kassenlage, die ich mir für Neuss nicht wünsche. Stattdessen würde ich mehr auf bezahlbaren Wohnraum setzen. Unsere Stadt muss als Ganzes gesehen werden. Wir haben ein strukturelles Defizit im Haushalt von 20 Millionen Euro. Jedes Jahr. Wir können dies nicht immer durch Grundstücksverkäufe ausgleichen.

Stadt-Kurier:

Sind sie mit der Wirtschaftspolitik in Neuss zufrieden?

Breuer:

Ich möchte eine Frage zurückgeben: Wer ist der Wirtschaftsförderer der Stadt Neuss?

Stadt-Kurier:

Frank Wolters

Breuer:

Das ist eine Top-Position, an die der Chef eigentlich selbst ran muss, mit einem Vollprofi an der Seite. In Neuss war die Stelle drei bis vier Jahre nicht besetzt. Allein das ist ein Skandal, ebenso das Handling von Whitesell. Es musste sich erst unser Parteikollege Dr. Holger Hanisch einschalten, um dafür zu sorgen, dass das Unternehmen weiter geführt werden kann und sich ein Investor in China finden konnte. Mir liegt viel an Whitesell. Schon mein Opa hat dort als Schlosser gearbeitet. Wirtschaft wird bei mir Chefsache sein.

Stadt-Kurier:

Wie wollen Sie das angehen?

Breuer:

Wir sind eine Großstadt mit Toplage. Ich habe gute Kontakte, auch zum Düsseldorfer Bürgermeister Thomas Geisel, die ich nutzen werde. Wir müssen unsere Stärken besser herausarbeiten, Neuss als Wirtschaftsregion profilieren und Synergien nutzen.

Stadt-Kurier:

Wenn Benno Jakubassa mit einer Aussage unrecht hatte, dann mit der vor einem Jahr, dass die Koalition im Spätsommer (also jetzt) zerrüttet sein wird. Knapp daneben, oder?

Breuer:

Dass die CDU und die Grünen die Mehrheit haben, ist eine Illusion, weil sie auf die Stimme des Bürgermeisters angewiesen sind. Ich finde es deshalb interessant, dass Michael Klinkicht und Helga Koenemann meinen, einfach so weiter machen zu können wie bisher. Werde ich zum Bürgermeister gewählt, werde ich auf alle Parteien zugehen, dann will ich eine neue politische Kultur in Rat und Verwaltung bringen. Schwarz-Grün lässt sich dann nicht fortsetzen, es wird der demokratische Ernstfall geprobt.

Stadt-Kurier:

Das dürfte eine Herausforderung werden...

Breuer:

Man muss die jeweiligen Parteien mitnehmen, ihnen auch Raum für ihr jeweiliges Profil lassen. Das erfordert gute Kommunikation. Ich wünsche auch, dass sich das Rathaus als Dienstleister für die Ratsmitglieder versteht, die ihr Ehrenamt verantwortungsvoll ausführen.

Jakubassa:

Im Moment behandelt Bürgermeister Napp die ehrenamtlichen Ratsmitglieder in seiner arroganten und herablassenden Art seit einigen Jahren nur mit Verachtung. Für ihn sitzen da 68 Vollpfosten.

Breuer:

Genau das geht nicht. Es sind wichtige ehrenamtliche Politiker, die neben ihrem Beruf in ihrer Freizeit die Interessen der Bürgerinnen und Bürger vertreten. Ich werde sie achten.

Stadt-Kurier:

Die Korruption im Rathaus war zuletzt immer häufiger Thema. Nachgewiesen wurde aber bisher nicht viel...

Breuer:

Das sehe ich nicht so. Das Amtsgericht verhandelt momentan mehrere Fälle. Wir haben also erwiesenes, strafbares Fehlverhalten im Rathaus vorliegen. Die Korruption gilt es weiter zu bekämpfen, es muss mehr Transparenz geben. Ich habe mich übrigens mit der Antikorruptionsstelle zusammengesetzt – die Leute leisten gute Arbeit, könnten aber stärker besetzt sein. Bei all den Vorfällen dürfte Napp schon längst nicht mehr im Amt sein. Wenn ich den Fehler begangen hätte, den er in dem Fall Taylor Wessing mit Höffner begangen hat, wäre ich sofort meinen Job losgewesen.

Stadt-Kurier:

Da haben Sie als Opposition versagt...

Breuer:

Das muss ich zurückweisen. Wir haben alle Register gezogen, die wir ziehen konnten. Und dennoch blieb der Fall ungeahndet. Der Fisch stinkt vom Kopf her.

Stadt-Kurier:

Sie haben ein gutes Programm, deutliche Meinungen, sind aber in Neuss laut ihrer repräsentativen Bürgerumfrage erst bei 26 Prozent der Bürgerinnen und Bürger als Bürgermeisterkandidat bekannt. Ihr Konkurrent Thomas Nickel, Rentner, Schützenpräsident und seit 30 Jahren in der Kommunalpolitik, erreicht ebenfalls nur diesen Bekanntheitsgrad. Die Politikverdrossenheit in Neuss könnte Ihr größtes Problem sein. Wie wollen Sie dagegen vorgehen?

Breuer:

Ich finde meinen Bekanntheitsgrad auch im Vergleich nicht schlecht. Ich bin berufstätig, mache meinen Vollzeitjob im Landtag. Ich nutze aber jede freie Minute, um für das Amt des Bürgermeisters zu kämpfen. Ich werde weiter Vollgas geben und wir werden alle Instrumentarien nutzen, die uns möglich sind, die Leute für die Wahl zu mobilisieren. Die Demokratie ist es uns wert.

Stadt-Kurier:

Warum gehen nicht alle wählen?

Breuer:

Ich erkenne auch Frust bei vielen Menschen. Frust darüber, keinen Kitaplatz bekommen zu haben oder nicht aus der Langzeitarbeitslosigkeit zu kommen. Es ist für viele ein nicht enden wollender Kreislauf. Allein die Zahl von 16 Millionen Euro, die Neuss in die Hilfe von Erziehung stecken muss, ist erschütternd. Da muss präventiv mehr passieren. Es kann nicht sein, dass die Streetworker in Erfttal gerade wieder umziehen müssen. Kein Kind darf zurückgelassen werden. Das ist ein Leitsatz, den Hannelore Kraft prägte, der aber auch in Neuss richtig ist. Die Leute denken: Es ändert sich ja sowieso nichts. Das stimmt aber nicht. Ich werde es ändern!

(Kurier-Verlag)