„Migranten und auch die meisten Deutschen werden von der Politik nicht mehr vertreten!“

Stadt-Kurier: · Die BIG-Partei (BIG = Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit) stellt mit Ahmet Tuzkaya einen eigenen Bürgermeisterkandidaten für die Wahl am 13. September auf. Ahmet Tuzkaya ist klar, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit einer seiner beiden Haupt-Konkurrenten, Reiner Breuer (SPD) oder Thomas Nickel (CDU), gewinnen wird, trotzdem geht er unverzagt in den Wahlkampf.

„Migranten und auch die meisten Deutschen werden von der Politik nicht mehr vertreten!“
Foto: Frank Möll

Weshalb er sich diesen Stress antut und was er mit seiner Kandidatur erreichen will, erklärt er im Stadt-Kurier-Interview.

Ihre Chancen stehen nicht gerade gut, warum treten Sie zur Wahl an?

Ahmet Tuzkaya:

Nichts ist unmöglich! Aber Sie haben schon recht, gewinnen werde ich vermutlich nicht, doch es ist mir wichtig, ein Zeichen zu setzen. Zu zeigen, dass jeder, der sich anstrengt, etwas erreichen kann. Wir wollen etwas verändern!

Stadt-Kurier:

Sie sind seit 37 Jahren Neusser, haben bei Case International und Textron (heute Whitesell) gearbeitet, waren 15 Jahre in der CDU aktiv, warum engagieren Sie sich heute in der "Ausländerpartei" BIG?

Ahmet Tuzkaya:

Ich habe das Gefühl, dass die großen Parteien zu festgefahren sind. Nichts Entscheidendes bewegen können oder wollen. Insbesondere bei den kleinen Dingen sind sie taub für die Wünsche und Sorgen der Bürger.

Stadt-Kurier:

Was hat Sie bei der CDU enttäuscht?

Ahmet Tuzkaya:

Dass man vieles sagt, aber trotzdem nichts ändert. Ein Stadtrat, der sich nur um sich selbst dreht. Die Leute haben nur ihre eigene Karriere im Blick. Die CDU ist nicht nahe genug an den Menschen.

Stadt-Kurier:

Die CDU?

Ahmet Tuzkaya:

Nicht nur in der CDU! Wenn man sich nur mal die Grünen anschaut: Es wurden sehr große Hoffnungen in sie gesetzt und sie haben sich mittlerweile so etabliert, dass sie zum Establishment gehören. Sie waren jahrelang gegen die CDU und jetzt sind sie mit ihr in einer Koalition.

Stadt-Kurier:

Wie ist ihr Verhältnis zu ihrem ehemaligen CDU-Parteikollegen Thomas Nickel?

Ahmet Tuzkaya:

Wir haben in all´den Jahren vielleicht zwei Worte miteinander gewechselt.

Stadt-Kurier:

Die BIG-Partei behauptet unter anderem: "Die etablierten Parteien werden aufgrund ihrer undifferenzierten, diskriminierenden Haltung und Handlung den Anforderungen unserer sich wandelnden Gesellschaft nicht gerecht." Wie äußert sich die diskriminierende Haltung der etablierten Parteien?

Ahmet Tuzkaya:

Das ist eine Aussage der BIG-Partei in Bezug auf die gesamtdeutsche Politik, sie hat mit der Bürgermeisterwahl erst einmal nichts zu tun.

Stadt-Kurier:

Das ist aber eine zentrale Aussage der Partei, deshalb gilt sie ja auch für Neuss.

Ahmet Tuzkaya:

Das ist eine Einschätzung der BIG-Partei und die Partei ist ja ein bisschen länger im Geschäft als ich.

Stadt-Kurier:

Ja, aber was meint die BIG damit? Alle anderen Parteien, die hier mit uns beim Interview zusammensaßen, haben eine ganz andere Haltung an den Tag gelegt.

Ahmet Tuzkaya:

Ja, von höheren sagen. Wenn man nur deren Parteiprogramm liest, würde ich mir diese Frage auch stellen. Doch die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Laut Papier und Theorien hört sich das immer gut an.

Stadt-Kurier:

Warum fühlen Sie sich und Ihre Interessen durch die Volkspartei CDU nicht mehr vertreten?

Ahmet Tuzkaya:

Die Migranten, aber auch die meisten "Naturdeutschen", werden von den großen Parteien nicht mehr vertreten.

Stadt-Kurier:

Warum nicht?

Ahmet Tuzkaya:

Die sind schon auf einem ganz anderen Level, die bekommen die Sorgen und Nöte der einfachen Menschen gar nicht mehr mit.

Stadt-Kurier:

Wo ist das für Sie spürbar?

Ahmet Tuzkaya:

Bei den kleinen Problemen. Die werden von den großen Parteien gar nicht mehr wahrgenommen. Zum Beispiel: Kürzlich rief mich ein Bürger an, der sich um die Schulbelange der Gladbacher Straße kümmert. Er meinte, er habe jede Partei angesprochen und nur ich habe ihm geantwortet. Er sagte: "An der Schule stehen seit zehn Jahren Container. Wissen CDU und SPD das nicht? Oder warum handeln sie nicht?"

Stadt-Kurier:

Wie sieht Ihr konkreter Gegenentwurf zur aktuellen Politik aus?

Ahmet Tuzkaya:

Ich komme von unten, ich komme aus dem unteren Durchschnitt der Bevölkerung. Als Migrant, als Facharbeiter, als Moslem, als Mitglied des Betriebsrates von Whitesell, der bereits mit einem Bein in der Arbeitslosigkeit steht. Ich kenne die Verhältnisse vieler potenzieller Wähler.

Stadt-Kurier:

Wie sehen Sie den Einsatz der Neusser Politik für das insolvente Unternehmen Whitesell?

Ahmet Tuzkaya:

Ausnahmsweise mal sehr gut. Hier stand man zusammen, engagierte sich gemeinsam und vergaß einfach die Parteigrenzen.

Stadt-Kurier:

Wenn es zur Stichwahl kommen sollte, wen werden Sie dann unterstützen? Reiner Breuer oder Thomas Nickel?

Ahmet Tuzkaya:

Da ist mir Reiner Breuer doch näher als Thomas Nickel. Die BIG-Partei hatte damals mit der SPD Schwierigkeiten, doch das waren parteipolitische Intrigen, über die man drüber weg sehen muss. Thomas Nickel würde ich nicht wählen, weil ich ihn so gut wie nicht kenne.

Stadt-Kurier:

Obwohl Sie jahrelang CDU-Mitglied waren?

Ahmet Tuzkaya:

Ja! Wie gesagt, er hat fast nie mit mir gesprochen.

Stadt-Kurier:

Wenn Sie die Stadt Neuss bewerten sollten, welche Schulnote würden Sie ihr geben?

Ahmet Tuzkaya:

Eine gute Zwei!

Stadt-Kurier:

Heißt das, sie wird doch gut regiert?

Ahmet Tuzkaya:

Nein, sie ist ein perfekter Wirtschaftsstandort, aber von Seiten der Verwaltung müsste man viel mehr machen.

Stadt-Kurier:

Was?

Ahmet Tuzkaya:

Den Mittelstand unterstützen zum Beispiel — er ist so gut wie komplett weggebrochen. Wir haben noch keine große Arbeitslosigkeit, aber das wird noch kommen.

Es gibt zum Glück noch ein paar große Firmen als Arbeitgeber. Man hat es geschafft, Pierburg hier zu halten, aber Schmolz etwa hat große Probleme, Hydro konnte man mit Mühe und Not halten, aber was die Zukunft da bringen wird, ist ja auch noch ungewiss.

Stadt-Kurier:

Nehmen wir an, Sie sind Bürgermeister der Stadt Neuss, was ändern Sie?

Ahmet Tuzkaya:

Zuerst einmal die kleinen Dinge.

Stadt-Kurier:

Und wie ist es mit dem großen Ganzen?

Ahmet Tuzkaya:

Da müsste ich mir erst einmal einen Überblick über die Lage verschaffen, vieles weiß ich ja nur von höherem Sagen. Von größter Wichtigkeit ist mir die Wirtschaftsförderung. Arbeitsplätze für den Mittelstand sind für mich das A und O.

Stadt-Kurier:

Sie haben sich ausgesprochen für einen kommunalen Plan gegen Kinderarmut. Gibt es Kinderarmut in Neuss?

Ahmet Tuzkaya:

Natürlich! Ich kenne die genauen Zahlen nicht, aber Kinderarmut ist in Deutschland gang und gäbe. Und Neuss gehört zu Deutschland. Auch wenn wir ein klein bisschen besser da stehen als unsere Nachbarn.

Stadt-Kurier:

Kennen Sie konkrete Fälle von Kinderarmut?

Ahmet Tuzkaya:

Natürlich. Was man eben so mitbekommt. Ich habe schon vielen Menschen geholfen, die ihre Rechnungen nicht bezahlen konnten. Viele Leute trauen sich ja auch gar nicht das zuzugeben, weil sie sich einfach deswegen schämen.

Stadt-Kurier:

Gibt es in Neuss "Willkommenskultur"?

Ahmet Tuzkaya:

Nein, Neuss ist zwar schön, aber in der Hinsicht doch sehr konservativ.

Stadt-Kurier:

Zu rechts?

Ahmet Tuzkaya:

Kann man auch nicht sagen. Man zieht das immer gleich in eine Ecke. Das wäre auch übertrieben.

Stadt-Kurier:

Man kann also sagen: Man zündet Ihr Haus zwar nicht an, aber zur Gartenparty lädt man Sie auch nicht ein?

Ahmet Tuzkaya:

Ja, gut ausgedrückt, das haben Sie sehr schön formuliert, Herr Möll!

Stadt-Kurier:

Danke für das Gespräch.

(Kurier-Verlag)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort