Interview mit Erziehungswissenschaftler Dr. Albert Wunsch „Respekt-Verweigerer werten sich durch ihre Taten selbst auf“

Herrscht in unserer Gesellschaft wirklich das Diktat der Respektlosigkeit? Wann ist der Respekt verloren gegangen? Wie kann man dem entgegen wirken? Fragen, auf die Dr. Albert Wunsch im Interview mit dem Stadt-Kurier Antworten gibt.

 Dr. Albert Wunsch ist Diplom-Sozialpädagoge, Kunst- und Werklehrer, Diplom-Pädagoge, Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler. Er arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs- und Konfliktberater sowie als Supervisor und Coach. Außerdem ist er in verschiedenen Feldern der Jugendhilfe und Erwachsenenbildung sowie kirchlich-sozialen Initiativen ehrenamtlich engagiert.

Dr. Albert Wunsch ist Diplom-Sozialpädagoge, Kunst- und Werklehrer, Diplom-Pädagoge, Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler. Er arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs- und Konfliktberater sowie als Supervisor und Coach. Außerdem ist er in verschiedenen Feldern der Jugendhilfe und Erwachsenenbildung sowie kirchlich-sozialen Initiativen ehrenamtlich engagiert.

Herr Dr. Wunsch, im Rahmen ihrer breiten Hochschul-Lehrtätigkeit stoßen sie sicher auch häufig auf das Thema Respekt. Viele ältere Menschen sehnen die „gute, alte Zeit“ herbei, in der Respekt noch groß geschrieben wurde. War früher wirklich alles besser?

Dr. Wunsch: Vor circa 70 Jahren setzte es noch den Rohrstock, wenn man nicht folgsam war. Damit verschafften sich die Lehrkräfte keinen echten Respekt, sondern sie verbreiteten Furcht. Allerdings hatten die Menschen damals mehr Respekt vor Lehrern, dem Polizisten, den Eltern, generell den Erwachsenen. Und es gab auch noch einen breiten Konsens grundlegender Anstands-Regeln.

Wann hat sich dies geändert?

Sehr stark durch die 68er-Studenten-Revolte, welche beispielsweise mit Rufen: „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ in die Öffentlichkeit drangen. In der Folgezeit wurden staatliche Institutionen attackiert oder lächerlich gemacht. Das hat eine breite Respektlosigkeit ausgelöst. So wurden auch Höflichkeitsregeln oder andere wichtige, das soziale Miteinander fördernde Verhaltensweisen über Bord geworfen. „Respektiere nur dich selbst“ wurde zum Leitmotiv eines sich stark ausbreitenden Individualismus.

Der Respekt vor staatlichen Institutionen geriet „außer

Mode“?

So ist es! Der Staat wurde nur dann akzeptiert und genutzt, wenn es um das Durchsetzen eigener Vorteile ging – zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, den Anspruch auf Sozialleistungen oder einen Pflichtverteidiger.

Wie zeigte sich der mangelnde Respekt konkret?

Gerichte wurden zu Schaubühnen provokanten Widerstandes, Richter und Polizisten wurden lächerlich gemacht oder angegriffen, Leistungsträger diffamiert oder ermordet. Aus dem Bundeskanzler wurde Herr X, aus Uni-Professoren wurden Herr oder Frau Y, Polizisten wurden zu Bullen und Väter und Mütter im „besten Fall“ zu Kumpeln. Alle Autoritäten wurden bekämpft beziehungsweise außer Funktion zu setzen versucht.

Sie sehen die 68er-Revolte also sehr kritisch?

Es gab durchaus positive Aspekte, zum Beispiel die deutliche Zäsur zur braunen Vergangenheit, die dringend notwendig war. Aber durch die Aussetzung wichtiger Umgangsregel und die Diffamierung sogenannter Sekundärtugenden wurde ein durch Wertschätzung und Verantwortung geprägtes soziales Miteinander torpediert.

Wie kann man dem entgegenwirken?

Basis eines respektvollen Verhaltens ist eine angemessene Selbsteinschätzung, konkret: sich nicht als Mittelpunkt der Welt, sondern als Teil einer Solidargemeinschaft zu sehen. Damit ist verbunden, Institutionen oder Menschen aktiv Respekt entgegen zu bringen. Somit sind Kinder und Jugendliche zur Wertschätzung vor dem Sein anderer Lebewesen, Sachgütern oder tragender Institutionen zu erziehen. Das im Rhein-Kreis Neuss stark verwurzelte Schützenwesen beispielsweise sehe ich als eine kraftvolle positive Bewegung, weil hier anständiges Verhalten und ein höflicher Umgang gelebt und eingefordert werden.

Was hat sich nach der 68er-Bewegung in der Kindererziehung verändert?

Eine Folge war und ist, dass Eltern, viele Lehrkräfte und andere Erwachsene sich dem Zeitgeist-Diktat unterwarfen und Vieles daransetzten, nicht mehr als Respektperson wahrgenommen zu werden, zum Beispiel weil sie ein konsequentes Verhalten scheuten und bei Konflikten häufig wegknickten. Mit diesem Anbiederungsprozess wurde der Respektlosigkeit Tür und Tor geöffnet.

Sie fordern also mehr Konsequenz und deutliches Handeln?

Wer über respektloses Verhalten hinweg sieht, verstärkt den Vorgang. Die subtile Botschaft lautet dann: „Ich mache meins. Es gibt keine verbindlichen Regeln.“ Das ist auch ein Nährboden für die um sich greifende Zerstörungs-Lust, ob gegenüber öffentlichen Gebäuden, auf Friedhöfen oder am Aufzug an der Brücke über das Hafenbecken 1. Hier zeigen die Täter null Respekt vor dem Eigentum Anderer. Im Moment der Zerstörung fühlen sie sich machtvoll. So handeln Menschen, die selbst in Respektlosigkeit aufwuchsen.

Hier ein besonders eklatantes Beispiel von fehlendem Respekt: Da fordert ein Busfahrer einen circa Zwölfjährigen auf, für eine gehbehinderte alte Frau Platz zu machen. Doch dieser reagiert mit: „Für so ein Friedhofsgemüse stehe ich doch nicht auf!“ Dank der konsequenten Reaktion des Busfahrers erhielt der Schüler ein deutliches „Stopp“ im doppelten Sinne. Der Fahrer hielt auf offener Strecke an und wies den Zwölfjährigen mit den Worten aus dem Bus: „Ein solch ungebührliches Verhalten ist ein klarer Verstoß gegen die Beförderungsbedingungen!“

Also müssen die Eltern der

Respektlosigkeit frühzeitig entgegen wirken?

Ein Beispiel: Ein dreijähriger Junge tritt seinem Vater beim Abholen vom Kindergarten vors Schienbein. Doch der reagiert nicht und sagt der beobachtenden Erzieherin nur: „Der meint das nicht so…“ Aber hier ist ein deutliches Stopp und wohlgesonnene Konsequenz gefordert.

Weshalb verhalten sich immer mehr Menschen respektlos?

Der Trick der Respekt-Verweigerer: Sich selbst durch ein Ignorieren von Ämtern, Funktionen oder der erbrachter Leistung Anderer aufwerten zu wollen. Konkret: Ein instabiles Ich plustert sich auf, um so an Größe zu gewinnen. Fällt das Umfeld auf diese Ich-Inszenierung herein, wird Macht ausgeübt und Respekt eingefordert.

Respektlosigkeit wird häufig mit der freien Meinungsäußerung zu legitimieren gesucht. Was sagen Sie dazu?

Die Freiheit der Meinungsäußerung ist der Achtung der Menschenwürde untergeordnet. Schwindet jedoch der Respekt vor der Menschwürde, mutiert die so genannte freie Meinungsäußerung schnell zu einem Konglomerat aus Häme, Schwachsinn, Falschbehauptungen oder tätlichen Angriffen.

Was ist Ihre Antwort auf den sich stark verbreiteten Individualismus?

Ohne Respekt – ob gegenüber staatlichen oder sonstigen Institutionen, Lebewesen, Sachgütern oder der Leistung anderer Menschen – ist kein friedvolles beziehungsweise solidarisches Miteinander möglich. Demnach unterminiert jede Form von Respektlosigkeit die Menschwürde und die Stabilität einer Gesellschaft.

Ein schönes Schlusswort. Herr Dr. Wunsch, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Rolf

Retzlaff.

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